VAN Magazine
09.1.2019

In der Schwebe

In der Schwebe

Vor 43 Jahren emigrierte die Pianistin Tatjana Geringas, geboren in Klin vor den Toren Moskaus, »da, wo Tschaikowsky seine besten Stücke geschrieben hat«, mit ihrem Mann, dem Cellisten David Geringas, aus der Sowjetunion. Über die Zeit des Abschieds vom Alten und Ankommens im neuen Leben schreibt sie in ihrem Memoirenfragment Unterwegs, ein Mosaik aus Stimmungen, Begegnungen, Erinnerungen, und dabei gänzlich unsentimental. »Ich bin jetzt fast 74, mein Mann ist 72, wir sind noch, entschuldigen Sie, jung, wir fühlen uns so, ja?«, erzählt sie mir in ihrer Wilmersdorfer Wohnung. »Komischerweise haben wir in unseren Köpfen und Herzen immer Zukunft. Wir glauben nicht, dass einen Moment irgendwas stoppt.«

VAN: Sie schreiben in Ihrem Buch wenig darüber, warum Sie emigriert sind.

Tatjana Geringas: Wissen Sie, die Leute, die diesen Schritt mit uns gegangen sind, wissen sehr gut Bescheid. Für alle anderen ist es wahrscheinlich nicht ganz klar, aber ich wollte nicht zu viel über politische Dinge schreiben. Zwei, drei Jahre nach unserer Ankunft in Deutschland wollte die Zeitschrift Brigitte einmal ein Interview mit mir machen über unsere Ausreise, die Rolle der Frau in der Sowjetunion, und überhaupt ›hätten sie gerne ein paar kritische Stimmen über Russland‹. Das habe ich abgesagt. Was soll das? Ich bin dem Land, in dem ich geboren wurde, sehr dankbar für die fantastische Ausbildung, die ich dort genossen haben. Ebenso wie Deutschland, wo wir sehr gut aufgenommen wurden, mit ganz großem Respekt, wo wir nie das Gefühl bekommen haben, dass etwas nicht stimmt.

Gab es denn ein auslösendes Moment für die Ausreise?

Es fing damit an, dass einer von Davids Brüdern, ein sehr guter Geiger, 1973 von Riga nach Kanada emigriert ist. Außerdem war mein Mann Schüler von Rostropowitsch, der sich Anfang der Siebzigerjahre mit der Regierung angelegt hatte, indem er auf seiner Datscha Solschenizyn Unterschlupf gewährte. Seitdem standen auch alle seine Schüler unter Beobachtung. 1974 ist Rostropowitsch dann ausgereist, von da an ging es weiter bergab. Die Siebzigerjahre waren sehr schwer für Künstler in der Sowjetunion. Mein Mann hatte zwar 1970 den Tschaikowsky-Wettbewerb gewonnen, wir spielten bis zu 80 Recitals im Jahr gemeinsam. Trotzdem hatten wir niemals ein sicheres Gefühl, dass es so weitergeht. Wir wussten, dass es keine Entwicklung gab. Wir sind keine Karrieristen, aber wir wollten unser Repertoire spielen, das teilweise verboten wurde. Mein Mann traf einmal einen Parteisoldaten in einem öffentlichen Gebäude, der ihn fragte: ›Ah David, was machen Sie denn noch hier?‹ Das war wirklich die Art, wie die Leute mit der Intelligenzija umgegangen sind. Die Frage wurde mit unserer Ausreise beantwortet.

Tatjana und David Geringas bei einem Konzert im Kleinen Saal des Moskauer Konservatoriums, 1972.

Sie kamen nach Ihrer Ausreise 1975 über die Zwischenstation Wien nach Rom, wo sie auf ein Visum für Amerika warten mussten. Rostropowitsch hat Ihrem Mann dann über Karajan ein Stipendium in der Orchester-Akademie der Berliner Philharmoniker vermittelt. Wissen Sie eigentlich, wie Rostropowitsch Sie in Italien aufgetrieben hat?

Er rief in der Bar an, über der wir wohnten. Irgendwann rief der Barbetreiber ›Signori Russo, Telefon‹, und Rostropowitsch war am Apparat. Bis heute weiß ich nicht, wie er an die Nummer gekommen ist und wie er uns da überhaupt finden konnte. Das war ein einfacher Fernsprechautomat. Wir haben ihn nie gefragt, irgendwie gab es immer Wichtigeres zu besprechen, wenn wir uns trafen.

Als das Angebot aus Berlin kam, war Ihre erste Reaktion: ›Was? Zu den Faschisten? Niemals!‹.

Ja, ich schäme mich nicht, das geschrieben zu haben. So waren wir erzogen. Ich möchte niemanden beleidigen, ich wollte nur zeigen, wie wir durch und durch mit Propaganda gefüttert waren. Für mich war Berlin ein sehr schwerer Weg. Ich war in der Sowjetunion eine Pionierin gewesen, Komsomol. Zu den Deutschen? Niemals.

Im Westen haben Sie weiter als Kammermusikerin konzertiert, Ihren Mann beim Unterrichten unterstützt, selbst als Dozentin gearbeitet, gleichzeitig die Familie zusammengehalten, Ihr Sohn bekam Epilepsie, alles in einem fremden Land und in einer fremden Sprache. Wie haben Sie das geschafft?

Ich habe sehr viele Rollen gespielt, musste auf allen Hochzeiten tanzen, ohne Sprache und ohne Zugang zu vielen Sachen. Das Ganze war eine total andere Welt für mich, mit der ich nicht fertig wurde. Dann die Krankheit meines Sohnes. Das war ein bisschen zu viel auf einmal. Schließlich bin ich selbst krank geworden und bekam psychische Probleme, weil mir die Kraft ausging. Ich war fast raus, für drei Jahre, eine Nervensache. Es gab Tage und Monate, da konnte ich nicht aufstehen. Das war ein Resultat der Immigration, das auch viele unserer Freunde kannten. In unserem Bekanntenkreis sind viele ziemlich früh gegangen, nach unten oder nach oben, oder wie sagt man? Wir haben unser Land verlassen in dem Wissen, unsere gesamte Verwandtschaft nie wieder im Leben zu sehen. Das war entsetzlich. Nur weil wir jung waren, konnten wir diesen Schritt überleben. Manch anderer hat es nicht geschafft.

Sie waren am Moskauer Konservatorium die letzte Schülerin von Heinrich Neuhaus und haben dann bei seinem Sohn Stanislaw weiterstudiert, unter anderem mit Radu Lupu, mit dem Sie eng befreundet sind. Wie war die Atmosphäre in der Klasse?

Der Unterricht war fast immer öffentlich. Alle wollten den alten Neuhaus hören. Viele seiner Fans, alte Babuschkas, sind von der Straße gekommen und haben zugehört, einige saßen auf dem Boden, weil der Raum zu klein war. Heinrich Neuhaus war ein Ein-Mann-Theater, er ist im Unterricht aufgeblüht, hatte eine wunderbare Sprache, zu Chopin hat er Baudelaire auf Französisch vorgelesen. Er war ein schöner Mensch, nicht sehr groß, aber eine Erscheinung. Man konnte ihn anschauen und fand schon Inspiration. Sein Sohn war auch sehr schön, viele Mädchen wollten ihn verführen. Er war im Unterricht ein bisschen härter. Wenn ihm etwas gar nicht passte, wurde er nicht grob oder unhöflich, aber schon auf irgendeine Weise kränkend.

War es schwierig für Stanislaw Neuhaus, in die übergroßen Fußstapfen seines Vaters zu treten?

Ich glaube schon. Als er noch Assistent seines Vaters war, habe ich selbst erlebt, dass, als er einmal ein Konzert eines Schülers auf dem Klavier begleitete, plötzlich sein Papa hereinkam und sagte: ›Was spielst Du da?‹ In dem Moment war er sofort wieder das kleine Söhnchen. Ich glaube schon, dass er einen Komplex hatte. Ich habe aber gar nicht viel darüber nachgedacht. Ich hatte sehr schönen Kontakt zu beiden.

War es schwierig für Sie, dass der Unterricht immer öffentlich war?

Furchtbar, entsetzlich. Es gab einmal eine unangenehme Geschichte mit meiner ersten Lehrerin: Ich spielte das erste Mal Chopins 4. Scherzo vor und Neuhaus hat geschrien: ›Wer hat ihnen sowas gezeigt?‹ – und meine erste Lehrerin, selbst eine wunderbare Pianistin und Lieblingsschülern von ihm, saß da im Publikum.

Wie haben Sie im Unterschied dazu den Unterricht dann später im Westen erlebt?

Es ist schwer zu sagen, ich habe nicht viel verglichen, weil wir unser Moskauer Konservatorium einfach hierher mitgenommen haben. Ich war manchmal bei Meisterklassen anderer Lehrer, und fand es öfter ein wenig oberflächlich. Das war ganz anders, als das, was wir aus unserer Ausbildung mitgebracht haben.

Was haben Sie denn mitgebracht?

Keine Begrenzung im Repertoire, keine Begrenzung in Stil und Klangsuche, eine tiefgehende Auseinandersetzung mit der Kultur. Als wir hierherkamen, hatten wir manchmal das Gefühl, dass die allgemeine Auseinandersetzung mit Kultur etwas flach war. Vielleicht bildet sich eine Art Trägheit aus, wenn man im Land von Bach und Beethoven aufwächst? Einmal haben wir im Unterricht Prokofjews Romeo und Julia gemacht. Eine unserer Schülerinnen, die handwerklich sehr gut war, sollte Mercutio spielen. Da hat sie große Augen gemacht und gefragt:›Wer ist das?‹ In Moskau haben die Leute ein bisschen im eigenen Saft geschmort. Wir haben sehr viel Kunst und Literatur inhaliert, auch verbotene Literatur und Filme aus dem Westen, wir waren immer in Bewegung, um alles zu erfahren. Die Leute sind in der Metro gefahren und alle haben gelesen. Wenn wir uns unterhalten haben, haben wir sehr viel über Kunst gesprochen. Wir waren fast jeden Abend im Konzert, das waren ja goldene Zeiten damals, Gilels, Richter, Rostropowitsch, Kogan. Wir waren voll, aber nie voll genug, um nicht weiter zu schlucken.

Tatjana und David Geringas bei einem Konzert im Kleinen Saal des Moskauer Konservatoriums, 1972.

Was ist Ihre erste Erinnerung an Berlin?

Ein Konzert der Berliner Philharmoniker, Karajan mit Brahms, jemand hatte meinem Mann als Akademisten Podiumskarten für uns beide besorgt, von wo man ja dem Dirigenten direkt ins Gesicht guckt. Das war ein absoluter Schock, im positiven Sinne.

Was ist Musik für Sie?

Musik ist immer im Kopf, im Herzen, wie eine Krankheit, wie eine Verfolgung, auch wenn ich es nicht so empfinde. Es gibt ein paar Sachen, die ich nicht ertrage, selbst wenn ich gesund bin. Als Karajan einmal Brahms’ 1. Symphonie in der Hamburger Musikhalle gemacht hat, bin ich nach ein paar Takten aufgestanden und habe mich aus dem Saal geschlichen. Ich konnte es nicht aushalten, ich habe so geheult, weil ich das Stück so sehr liebe. Als ich krank war, gab es eine Abneigung gegenüber Musik. Musik bringt mich zu schrecklichen Emotionen. Als ich Opern noch geliebt habe, habe ich gesagt, ich hasse La Traviata, weil ich von der ersten bis zur letzten Note weine.

Gehen Sie noch in Konzerte?

Kaum noch. Ich habe das Interesse verloren. Mein Mann war gestern in der Philharmonie, Gergiev hat dort mit dem Orchester des Mariinsky-Theaters Tschaikowskys Iolanta konzertant aufgeführt. David liebt das Orchester. Er hat mir danach geschrieben, dass es fantastisch und er bis zu Tränen gerührt war. Er geht bis heute in Konzerte, die ihn interessieren. Mich interessiert wenig. Ich höre Radio, das reicht mir.

Sie waren gerade vor Weihnachten wieder eimal in Moskau. Spüren Sie da etwas wie Nostalgie?

Moskau ist meine Stadt, erzeugt aber komischerweise keine große Nostalgie. Die Nostalgie hat aufgehört in dem Moment, als die Leute uns die Tür gezeigt haben. Wenn ich nach Moskau komme und ich gehe an dem Haus vorbei, wo ich dreißig Jahre lang gelebt habe, wo ich meinen Sohn bekommen habe, natürlich spüre ich da irgendwas, aber nicht Nostalgie in dem Sinne, dass ich heule und denke, ›ach, mein Land‹. Ich habe schon als Kind kein richtiges Gefühl von ›hier bin ich zu Hause‹ gehabt. Als ich während der Stalinzeit zur Schule gegangen bin, habe ich mich niemals wohlgefühlt. Dieses Land ist sehr antisemitisch, mein Vater ist Jude und hat sehr viel abbekommen. Er war Pianist, er war auch Schüler von Neuhaus, einer der ersten. Er hat in einem Armeeensemble gearbeitet, war Komponist, Begleiter, Arrangeur, ein ganz talentierter, fantastischer Mann. Aber er wurde von der Armee ziemlich oft gedeckelt. Wir haben das mitgekriegt, auch wenn es immer leise gesagt wurde, hat man es immer gespürt. Meine Nostalgie und meine Heimat trage ich immer bei mir [zeigt zwischen Brust und Bauch], da ist meine Heimat. Ich schwebe gerne zwischen Erde und Himmel. Ich gehe nicht ganz fest auf dem Boden. Dieses Gefühl gefällt mir.

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